Helga de la Motte-Haber- musicologist


"the digital virtual space is just a special form of artificial space that also can be evocated by a violin or a flute"
(links for Helga de la Motte-Haber)

born in Ludwigshafen, 1938. Studied psychology and musicology in Hamburg. 1971, habilitation for the field of systematic musicology. 1978, professorship at the Technische Universität Berlin.
Spielen für Sie als Musikwissenschaftlerinda Bilder eine Rolle in Ihrem beruflichen Umfeld?
images play a role, but I don't have such a narrow notion of art
Für meine Arbeit spielen Bilder ab und an eine Rolle. Das ist klar, weil ich jetzt auch nicht mehr den Kunstbegriff so eng definiere und trenne, daß wir da die Musik, da das Bild, da die Architektur und da die Literatur haben. Ich denke z.B., daß der Übergang bei Musik und Sprache immer schon thematisiert worden ist.
Dennoch ist man bisher mit Apparaten in der Musik bisher ganz anders umgegangen als in der bildenden Kunst, wo man immer noch Probleme hat, wenn Bilder über den Computer erzeugt werden. Wo sehen Sie mögliche Ursachen, daß man so vollkommen unterschiedlich an Apparate als Produktionsmedium herantritt?

Varèse at Philips Lab


utopy since Varèse: fixing a musical idea by a machine

Die Apparate waren immer schon mit einer utopischen Hoffnung besetzt, zum Beispiel dachte Edgar Varèse er könnte ein Apparat haben, ich sage mal ein elektrisches Instrument– damals hat man ja von elektrischer Musik gesprochen – damit das Werk einmal fixiert ist und nicht den Schwankungen der Interpretation bei jeder Aufführung unterworfen ist. Das ist eine Utopie, die also nun nicht ganz 100 aber fast 100 Jahre alt ist und die natürlich dann erst in den 1950er Jahren oder noch ein bißchen später realisiert wurde. Und dann dachten die Komponisten natürlich zugleich auch noch – ähnliches gilt wohl auch für die Bildmedien – dass man mit den Apparaten neue Klänge machen kann, das heißt also auf der Materialebene etwas ganz Neues gewinnt, jenseits von Geige und Flöte. Diese Materialebene war natürlich besonders wichtig. Aber das andere war die Idee, daß ich etwas fixiere und sozusagen das Werk dann da steht und nicht mehr antastbar ist. Es gibt da auch Widersprüche, vor allen Dingen heute bei der elektroakustischen Musik stellt sich immer das Problem der Raumverteilung. Das hat sich in den Anfängen nicht gestellt, weil man da vorne zwei Lautsprecher stehen hatte und etwas abgespielt hat. Aber seit man die Lautsprecher im Raum verteilt, kommen dann plötzlich wieder solche Faktoren ins Spiel, die der Komponist nicht so genau im vorweg kalkulieren kann und wo man auch nicht genau weiß, was passiert eigentlich, wenn die Komponisten dann nicht mehr anwesend sind und selber regulieren können, wie sie in dem Raum den Regler so und so hochgeschoben haben und den Lautsprecher da und da hin postiert haben wollen. Zwar wollen sie den Raum einbeziehen, aber in der Regel bis auf ganz wenige Ausnahmen gibt es keine Vorschriften, wie der Raum dann tatsächlich zum Klingen gebracht werden soll. Es sind ganz plötzlich wieder neue Probleme alter Art aufgekommen, weil die Aufführung von Musik sich dann auch als etwas Wechselndes darstellt.
Von dem her hat man ja schon eine gewisse Art Aufgabenteilung in der Musik, die sich in der Kunst ja nicht stellt. Der Maler hat sein Bild, wenn er es herausgibt, fertig und der Komponist eben nicht. Auf der einen Seite steht die Partitur und auf der anderen Seite die Aufführung. Wobei es auch ähnliche Entwicklungen im Kunstbereich gibt, z.B. durch Installationen oder Interventionen im öffentlichen Raum ....

decrescendo
Die Musik entwickelte sich schon im 19. Jahrhundert als ein Vorbild für die anderen Künste. Was die Trennung zwischen Partitur und Aufführung anbelangt, so schwanken die Auffassungen, ob die Musik durch die Partitur einen Textstatus hat oder ob die Partitur nicht doch eine Spielanweisung ist. Das ist nicht so ganz klar und auch nicht ganz eindeutig zu beantworten, weil in jeder Partitur Freiheiten enthalten sind, die den Interpreten irgendwo fordern und weil es bestimmte Dinge gibt, die man nicht so ganz genau aufschreiben kann. Bereits schon laut und leise ist nicht ganz genau aufgeschrieben mit diesen crescendo- und decrescendo-Gabeln. Die Tonhöhen sind genau, die Rhythmen sind genau, aber dann steht dann da zum Beispiel ritardando, also verlangsamen, aber wie viel, das ist dann dem Interpreten überlassen und deswegen gibt es so eine Zwischenstellung zwischen dem fixierten Text, einem Schriftstück und dem, was an dem Text doch immer auslegbar ist und wo die Partitur eine Art von Spielanweisung ist. Schließlich kommen dann hundert Bänder über Werktreue und, und, und ins Spiel, es ist also ein unlösbares Problem.
Nelson Goodman bezieht sich in den „Sprachen der Kunst“ explizit auf die Partitur. Da würde ich gerne mal wissen, was eine Musikwissenschaftlerin zu folgender Passage sagt: „Aber jede Partitur hat als Partitur die logisch vorrangige Aufgabe, ein Wert zu identifizieren.“?
the notation is just the skeleton of a work, you still need some flesh around Das Werk zu identifizieren, dahinter steht irgendwie eine Utopie. Natürlich gibt es die Vorstellung, daß die Musik ein Werk ist und daß sie als ein Werk auch als etwas Identisches überdauert. Die Realisierungsformen zeigen jedoch stets, daß dieses Werk eigentlich auch etwas Imaginäres ist. Es ist da, es ist aber mehr eine Idee, als daß diese Aufführung oder diese Aufführung oder die Partitur wirklich das Werk wiederum ist. Die Idee des Werkes ist da und auch leitend. Sie hat zu noch stärkeren Fixierungen in der Partitur geführt und eben dann bei den Komponisten den Wunsch stimuliert, damals das auf einer Schellack- oder Schallplatte fixiert zu haben für alle Zeiten, ohne, daß irgend jemand daran rütteln kann. Allerdings muß anfügen, daß das schon die Krone der Technik für einen Komponisten war und andere Techniken nicht zur Verfügung standen. Deshalb also: Was Goodman schreibt, ist richtig, irgendwo problematisch und irgendwo auch selbstverständlich, insbesondere wenn man sagt, das Werk ist die Idee, die eigentlich hinter den Noten und hinter jeder Aufführung steht und wo auch immer neue Deutungen der Werke möglich sind.
Es gibt da einen interessanten Punkt: Es ist nichts an traditioneller Kunst so zählebig wie die Musik. Kein Goethe, kein Schiller, kein Caspar David Friedrich oder wer sonst noch ein berühmter Maler ist - das sind alles ganz tolle Kunstwerke, es ist nicht so, daß der Faust nicht überlebt hätte - aber keine dieser Kunstformen in unserer gegenwärtigen Kultur ist so präsent wie die klassisch-romantische Musik. Und zwar deshalb, weil sie in immer neuen Facetten erscheint und selbst Personen, die eine extreme musikalische Vorbildung haben, durch irgendeine Interpretation von Horowitz, der eine Nebenstimme herausgearbeitet hat, völlig überrascht dastehen und sagen: „Ja, den Liszt hab ich so noch nie gehört.“ Das heißt also, es steht immer noch irgend etwas drin, was man herausholen, herausdeuten kann, was schon zum Werk gehört, was aber noch nicht so gesehen worden ist. Das heißt also, irgendwie ist die Partitur auch nur das Gerippe eines Werkes und da muß noch ein bißchen Fleisch drum rum.
Das ist ja eigentlich erstaunlich, ich hab nur diese paar schwarzen Punkte auf dem Papier, wie kommt das Fleisch eigentlich da hinzu? Also, wenn ich es einmal übertrage, so haben wir es eigentlich mit einem klassischen Fall von einem Digitalanalogwandelprozess zu tun.
it would have been more adequate if the poststructuralists had developed the idea that significance is created between knots in a web referring to music

Ja, indem man einfach Zusammenhänge zwischen den Punkten im Kopf konstruiert. Ich sage jetzt einfach nur im Kopf, früher hätte man von Geist gesprochen. Modern hieße es, daß man kognitive Verbindungen erschafft. Das heißt also, die Punkte haben untereinander Relationen und diese Relationen der Notenpunkte oder der anderen Schwärzungen auf dem Papier, die eröffnen wirklich einen musikalischen Raum. Je nachdem, wie man sich in diesem Raum bewegt, entsteht so etwas wie Logik und Fortschreitung. Mitunter gibt es auch Sprünge und das macht dann den Sinn aus. Also, genau genommen muß man sagen, daß es viel passender gewesen wäre, wenn die Poststrukturalisten ihre Idee, daß der Sinn zwischen zwei Knoten in einem Netz entsteht, an der Musik entwickelt hätten, weil sich in der Musik eben nur durch solche funktionalen Beziehungen Sinn konstituiert. Wir kennen in der Musik auch gar nicht dieses „dies ist ein Glas“, was die Sprache noch besitzt. Also die intertextuellen Relationen, wie z.B. bei Derrida, sind sehr gut, um zu zeigen, wie aus den Punkten musikalischer Sinn hervorgeht. Ein Ton allein hat von daher auch keine Bedeutung.
Bemerkenswert ist doch, daß nun durch Apparate Klänge auf einmal Bedeutung gewinnen, indem Umweltklänge durch das Samplen musikalisch behandelbar wurden. Wenn ich mich jetzt umschaue, was mit den Bildern passiert ist, so haben wir im 20. Jahrhundert eigentlich die umgekehrte Entwicklung vom Figurativen hin zum Abstrakten. Sind das nicht zwei Gegenbewegungen?
difficulty how to relate sounds Die Geräusche sind halt sehr schön bunt für die Komponisten, bunter als irgendwie ein Ton. Das kann schon mal faszinierend sein, damit was zu machen. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, Relationen zwischen Geräuschen herzustellen. Es sei denn, ich bin John Cage und will gar keine.
Man kann diese Relationen auch formalisieren. Wenn ich nun die Tradition der bildenden Kunst mit der Bach’schen Musik vergleiche, formale Beziehung aufzubauen, so hat man sich eigentlich damit in der Kunst sehr schwer getan. Die konkrete Kunst ist eigentlich ein sehr späte Entwicklung.
Das leuchtet ein. Man hat immer oder sehr oft die Musik als Vorbild genommen, z.B. die Fuge in Rot.
Wenn man so weit formalisiert, dann spielt Mathematik auch eine gewisse Rolle. Wenn ich jetzt von den Bachschen Gegebenheiten ausgehe ...
Mathematik kann eine Rolle spielen. Das ist egal, ob man Bach nimmt, man kann auch von Xenakis ausgehen, also allgemein logischen Prinzipien.
Mit diesen logischen Prinzipien hatte man stets bestimmte Berührungsängste in der Bildenden Kunst. Wie können Sie sich das erklären, daß man relativ unverkrampft damit in der Musik umgeht?
mathematics and logic in music exist since Pythagoras Das hat eine so lange Tradition, daß das überhaupt nie angezweifelt wurde. Die Legende von Pythagoras, der die Relationen des Kosmos an den musikalischen Intervallen zu veranschaulichen versuchte, ist eben über 2000 Jahre alt. Dies hat eine Tradition eröffnet, die ganz ungeheuerlich für die Ordnung der Musik war, wobei nicht nur die Mathematik aber immer noch die Mathematik eine Rolle spielt, um irgendwelche logischen Prinzipien in der Musik zu erklären.
Wobei bemerkenswert ist, daß man meistens, wenn es um Veranschaulichung von Mathematik geht, Bilder oder räumliche Veranschaulichungen heranzieht und keine musikalischen.
Ja.
Was mir im Zusammenhang der Dominanz visueller Raumvorstellungen aufgefallen ist, daß zum Beispiel Kant den Begriff der Erhabenheit, eher mit einem Raumgefühl, Raumerlebnis verknüpft und daß er explizit keine musikalischen Parallelen herstellt.
music for Kant: molesting as a perfumed hankerchief Nun muß man erwähnen, daß Kant eine solche Abneigung gegen die Musik hatte, daß er sogar sagte, sie wäre so belästigend wie ein parfümiertes Taschentuch. Das hat er wirklich geschrieben, von daher lag ihm das auch nicht so nahe. Abgesehen davon, begann zu Kants Zeiten der Aufstieg Musik als reiner Musik, als Instrumentalmusik, also nicht nur als etwas, das die Texte noch hervorzukehren hatte. Das passierte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, von daher ist es verständlich, wenn in seinem System – er hatte ja ein Kunstsystem – die Musik noch ganz unten steht. Sie hatte so ungefähr den Stellenwert wie die Landschaftsarchitektur der schönen Schlossparkanlagen. Oben stehen natürliche die tollen Künste wie Poesie und die Malerei und die Bildende Kunst insgesamt, die Plastik. Das ist aber dann sehr schnell zu Ende, zu Anfang des 19. Jahrhunderts steht die Architektur zum Beispiel ganz unten und die Musik ganz oben, weil sie eben so rein geistig wirkt.
Sprung in die Jetztzeit, wo es auch um Wahrnehmen von Räumlichkeit geht, aber wiederum eher einer bildlichen Räumlichkeit, dem cyber space. Mit cyper space verbinden wir meistens auch nur Bildräume und eben keine Klangräume. Woran könnte das liegen?
Ich würde das als ein Technikproblem ansehen, das hängt mit diesen Geräten und mit den Entwicklungen zusammen. Aber ich bin mir nicht sicher, was da noch auf uns zukommen wird. Es ist nicht cyper space, aber ich hab grad einer Diskussion gelauscht über diesen neuen Christus-Film von Mel Gibson. Ohne Soundtrack kann man den Film vergessen. Da haben wir schon etwas, was sehr stark vorausweist, wie stark bereits diese künstlich virtuelle Welt auch über das Ohr vermittelt werden kann. Im Film hat man das schon immer- dolby sorround ist auch so eine Entwicklung -, wo man den Zuschauer auf die Leinwand versetzen möchte. Deswegen ist das für mich nur eine Frage der Zeit, bis da weitere Entwicklungen bei den anderen digitalen Medien vorangeschritten sind.
Wobei technisch doch alles viel besser ausgereift ist: Man kann ja nirgendwo besser Raum, Räumlichkeit herstellen als durch Klang. Bei einem Pixel habe ich ja gar nichts. Man merkt ja bei einer bildlichen Virtualität immer noch, daß sie künstlich, artifiziell ist und im klanglichen Bereich merkt man das gar nicht.
presence research: space is mediated by the ear and not by the eye Es gibt ja jetzt einen neuen Forschungszweig: die Präsenzforschung. Zu dem Präsenzerlebnis gehört im wesentlichen, „ich bin drinnen.“ Also wenn ich das Gefühl habe irgendwo in einer künstlichen Welt drinnen zu sein, dann sind auch akustische Untersuchungen schon im Gange, weil eben das Ohr die eigentliche Vermittlung für das Raumgefühl ist, nicht das Auge. Das schätzt nur Entfernungen und Objekte, das muß kein naturalistischer Seheindruck sein, weil ich ja auch immer noch eine Körperpräsenz mir gegenüber habe. Aber damit ich zugleich als Ich einbezogen bin in einem anderen Raum, da ist das Ohr schon ein ganz wichtiges Organ.

Wenn man in die Kunst geht, kann man sehen, daß sehr viele bildende Künstler mit Klang arbeiten, um den Menschen in einen Raum zu versetzen. Es gibt auch Musiker, die solche Klanginstallationen machen, aber die Hälfte sind bildende Künstler. Die haben nicht die Anliegen von Musikern, das sie immer eigentlich so eine Raumintention haben. Das ist ein schmaler Strang und die Kunstentwicklung mit dem Erfinden und dem Gespür für Probleme geht immer der kommerziellen Entwicklung voraus. Sehr oft zumindest, davon bin ich überzeugt. Bemerkenswert ist übrigens, wer in den Klangkunstjurys sitzt: Musikwissenschaftler.

Hat Klangkunst ein Rezeptionsproblem?

Bernhard Leitner
Das sind noch relativ wenige, weil man natürlich auch praktisch überhaupt kein Geld verdient, aber so wenige sind es auch nicht, daß nicht in den letzten 30 Jahr immer wieder was organisiert worden wäre. Dennoch: Wer schreibt über Leute wie Bernhard Leitner - Frau de la Motte.
Bei den Architektenan der TU war ich ein paar Mal Gutachter bei Promotionen über Musik und Architektur: da ist dann alles nur gefrorene Musik oder erstarrte Musik und dann geht es um die Säulenordnung und dann noch natürlich um die Renaissance-Künstler, die sich die mathematischen Proportionen der Musik zum Vorbild genommen haben. Wenn man die aber fragt nach dem TU Klangraum, der mittlerweile 20 Jahre existiert und nun tatsächlich in der technischen Universität einen architektonischen Neuraum gestaltet, dann zucken die alle zurück.
Es ist mir bei diesem Klangraum jetzt erst aufgegangen, daß ein Künstler ohne das jetzt theoretisch hier zu reflektieren eine Decke wölbt und damit etwas in der Wahrnehmung verändert, weil Menschen schätzen normalerweise die Vertikale zu niedrig ein, damit man sich bloß nicht seinen Kopf irgendwo anhaut. Und der macht diesen Raum auf einmal höher und stellt sozusagen diese vertikalen Täuschungen in Rechnung. Der Raum wird natürlich nicht höher, aber er wird wenigstens so hoch, wie er de facto ist. Das finde ich dann wiederum auch sehr interessant, es hat eigentlich gar keinen Kunstbezug, sondern nur einen Rezipientenbezug, aber der ist ja dann auch irgendwo gewollt.
Zu diesem innen/außen Problem gibt es in der bildwissenschaftlichen Debatte einen kleinen Streit, was da jetzt nun das Bild ist, ob da nur die äußeren Bilder Bilder sind oder ob die inneren Bilder in der Imagination auch als Bilder begriffen werden können: Stellt sich so eine Frage zwischen innen/außen in der Musikwissenschaft?
hearing as a kind of inner process, but also as outer phenomena by being affected Eigentlich würde man da eher dazu tendieren, von bestimmten Kunstformen abgesehen, daß die Musik innen ist. Ich glaube, daß hier es hier einen kleinen Unterschied zu den Bildwissenschaften gibt. Man müßte von einer Art innerem Hören oder aktivem Hören, also auch von Nachvollzug, sprechen. In der Tanzmusik und bei Techno gibt es aber noch diese Überwältigungsmomente durch Musik, wo es doch auch außen ist, wo es den Körper affiziert. Musik hat teilweise auch solche Züge, daß sie dann eher außen ist und ich sie verspüre und sie auch ein bißchen erleide. Besser vielleicht: Man muß nicht immer die innere Vorstellung haben, sondern es kommt sozusagen auf mich zukommt. Also man hat beides.
Gibt es ein Äquivalent zur Imagination, zu inneren Bildern, Vorstellungen im akustischen Bereich?
earworm as an acoustic equivalent for visual imagination Jeder Mensch hat schon mal einen Ohrwurm gehabt. Jeder Mensch, und der kann manchmal belästigend werden, aber der ist tatsächlich nur innerlich vorgestellt. Ihre Lieblingsmelodie, irgendein Schlager, irgend etwas, das Sie gerade gehört haben. Oder aber auch das Thema der fünften Symphonie, verfolgt Sie dann den ganzen Tag in der größten Stille und im größten Krach. Plastisch macht das wirklich der Ohrwurm. Das gibt es natürlich in differenzierteren Formen. Wenn ein Dirigent oder Komponist eine Partitur liest, dann muß er den Klang natürlich nachvollziehen können, das gehört zu seinem Job. Das kann nun nicht jeder Laie, aber der kann dann dafür auch ein bißchen hören.
Bei anderen versuchten Übersetzungen stellt sich das Problem von virtuell und reell. Stellt sich diese Frage in der Musik?
the digital virtual space is just a special form of artificial space that also can be evocated by a violin or a flute Ich weiß es nicht. Ich neige in letzter Zeit dazu, das, was man als virtuell durch die digitalen Medien zubereitet betrachtet, daß das nur eine Sonderform ist von irgendwelchen künstlichen Räumen, die auch mit einer Geige oder Flöte hervorgerufen werden können. Meine Meinung ist vielleicht ein bißchen primitiv, aber ich finde nicht genau die Differenzierungen.
Sie haben vorhin erwähnt haben, daß ein Klang eigentlich keine Bedeutung habe, daß er zu nichts zugeordnet werden kann, das heißt, daß er gewissermaßen schon von der Realität abgerückt, weggerückt ist. Aus dieser Richtung kommende frage ich, ob nicht dann die Musik quase schon etwas Virtuelles ist?
being in an imagined reality: sitting terrified in a symphony concert Es würde meiner Meinung entsprechen. Es gibt natürlich viele Leute, die scharfe begriffliche Abgrenzungen suchen. Aber wenn da einer erschüttert in der Philharmonie sitzt und vergißt, wo er eigentlich sitzt, wo ist er denn eigentlich dann? Dann ist er doch eigentlich in einer – wollen wir es mal ins Deutsche übersetzen – Vorstellungsrealität. Hinterher reagiert er sich beim Applaus ab, weil er wieder in die andere Realität zurückfinden und seinen Mantel wieder an der Garderobe abholen muß.
Das sind bestimmt nicht die Leute, die unmittelbar danach, wenn der Dirigent den Taktstock senkt, anfangen, Bravo zu rufen ...?
... und mit Bonbonpapier rascheln. Nein, das nicht, aber das meine ich ganz ernst. Ich kann nicht so scharf unterscheiden. Es gibt Künstler, die wollen eine scharfe Unterscheidung haben und das kann ich auch verstehen, weil virtuelle Realität im engeren Sinn ja auch meint, daß unmittelbar an den Sinnesdaten etwas verändert wird und ich gar nicht die Möglichkeit habe, das eventuell anders zu sehen. Da könnte man schon einen Unterschied konstruieren.
Ein weiterer Versuch, eine Analogie zu bilden: Was bezeichnend für die digitalen Bilder ist, daß sie sich aus Bildelementen sprich aus picture elements, Pixels eben, zusammensetzen. Gibt es dazu auch wieder ein durch die Digitalisierung bedingtes Pendant in der Musik?
the digital techniques are neutral with regards to the arts Es gibt viel Schlimmeres. Es gibt ja so etwas wie die Granularsynthese, die Xenakis in manchen Werken verwendet und das sind ja noch nicht einmal einfache Pixels, sondern das sind auf Minimum Bruchteile zerlegte einmal reale Klanggebilde. Die werden dann neu zusammengesetzt und ergeben ein neues Stück. Sie erkennen nichts von dem, was da original zugrunde gelegt worden ist, aber jeder Synthesizer ist ein digital operierendes Objekt und dann macht es eben „Beep“ und dann macht es zweimal „Beep“ und dann hör ich das schon ein bißchen anders, wie wenn ich irgendwie zwei Pixels auf dem Bildschirm zusammenfasse und plötzlich eine Figur sehe. Ich würde da überhaupt keinen Unterschied machen. Diese Techniken sind gegenüber den Künsten weitgehend neutral.
Wobei es etwas Neues im bildlichen Bereich darstellt.
Ja, in der Musik ist es auch etwas Neues..
Der Pixel ist eigentlich nichts anderes ist als eine Art bildliche Notation von einer mathematischen Koordinate, die einen gewissen Farbwert hat und die beliebig groß skaliert werden kann. Das Arrangement verschiedener Pixels gibt erst das eigentliche flächige Bild. Ich habe also eine Art Notation, die vor allem keine Skalierung besitzt. Der Pixel an sich, das Pixelensemble, das sind ja nur mathematische Punkte und diese mathematischen Punkte haben keine Ausdehnung, sie haben keine Größe. Das ist eine neue Qualität im Bildbereich. Da Musik nicht auf räumliche Ausdehnung abzielt, sondern eben auf Ausdehnung in der Zeit, würde es mich interessieren, ob es eine Veränderung eben halt gab? Sie sprachen das mit der Granularsynthese an, Originalklangmaterial quasi zu quanteln.
Minimal weniger.
Im Bereich der Bildenden Kunst kommt angesichts der grenzenlosen Reproduzierbarkeit immer wieder die Frage von Kopie und Original auf. Das gibt es eigentlich in der Musik nicht.
Nur ich finde es so komisch, diese altmodischen Kategorien sind einfach manchmal nicht mehr angemessen.
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß es den Akt, „die Treppe hinuntersteigen“, zweimal, völlig identisch gibt. Marcel Duchamps hatte sein Bild noch mal abgemalt, um diesen Mythos der Originalität zu unterlaufen. Irgendein Sammler wollte das Bild noch einmal haben. So hat er alles noch einmal abgemalt. Aber nicht nur, um das Geld zu verdienen, sondern auch, um solche Mythen zu unterlaufen zugunsten von einer anderen Auffassung, die er als Künstler hatte.
Noch mal zurück zu den Apparaten. Ich möchte eine kurze Parallele hin auch wieder zu den Bildmedien machen und zwar Henry Fox Talbot, der Erfinder der fixierten Fotographie, schwankt bemerkenswert in der Einschätzung, woher seine Bilder kommen und zwar bezeichnet er sie einmal als invention und das andere Mal als discovery. Wie sieht das in der Musik aus, ist Musik mehr eine Erfindung oder mehr eine Entdeckung?
musician as engineer – Stockhausen compares musician with explorer

Heute würde man eher davon sprechen, daß sie eine Entdeckung ist und früher hätte man gesagt, daß es eine Erfindung ist. Es gibt einen sehr schönen Aufsatz von Stockhausen, der die Rolle des Künstlers neu definiert. In Erfindung und Entdeckung - so ähnlich heißt dieser Aufsatz - wird der Musiker, der Komponist eher als jemand beschrieben, der wie ein Forscher etwas entdeckt und das gebraucht, aber der nicht mehr dann sozusagen das Genie ist, was neue Welten erfindet. Das ist schon etwas, was ziemlich umfassend prägend geworden ist für das Selbstverständnis von Künstlern, daß sie eher Entdecker sind. Von daher schaffen sie manchmal halt auch eine Parallele zum Ingenieur, der ja dann durch seine Entdeckungen doch vielleicht etwas Neues hervorbringt. Das ist ja der Anspruch doch auch immer, daß man noch etwas Neues hervorbringt.
Das Ingenieurhafte ist in der Kunst weitaus verpönt, das wird dann sofort zum Kunsthandwerk.
In der Musik würde man das nicht sagen. Es ist eine Distanzierung von Ausdrucksästhetik und Seelenüberschwang und Hinwendung zu etwas, was funktioniert.
Wer macht denn dann heute Klangkunst? Künstler oder Musiker?
Das sind überwiegend bildende Künstler und die alle noch Theorie dazu machen. Bemerkenswert ist, wer in den Jurys sitzt: Musikwissenschaftler. Es gibt jetzt eine ganz junge Kunsthistorikerin, die ich mit Macht fördere, soweit es in meiner Macht steht, die nicht sehr weit reicht. Weil plötzlich mal jemand von der Kunstgeschichte kommt und sich für neuere Entwicklungen interessiert, die ja nicht nur die Herstellungsverfahren, sondern überhaupt die ganze Haltung des Künstlers zu der Kunst und auch der Rezipienten zu der Kunst irgendwie betrifft. Ich finde das sehr merkwürdig und ich merk es auch bei meinen Kollegen. Video, das geht ja grad noch, aber Video ist natürlich eigentlich auch schon etabliert und in gewisser Hinsicht fast schon eine vergangene Technologie. Das heißt nicht, daß es nicht noch tolle Videokunst geben würde. .
Durch die Digitalisierung – das bemerke ich immer wieder in meinen Gesprächen -hat sich bei vielen das Vertrauensverhältnis zu Bildern verändert hat. Geht das Ihnen bei Bildern genauso, bzw. hat sich durch die Digitalisierung Ihr Vertrauen ins Klangmaterial geändert?

Atau Tanaka

Kissin only has played 50% of the tones in the right way, but he was an overwhelming pianist: This is concert!

Sie meinen, weil man dann Angriffsmöglichkeiten hat und irgendetwas verändern kann. Ich denke, daß man das doch gerade zur Sprache der Kunst erheben kann. Es gibt ja mittlerweile etwas, wo sozusagen „das mitwirkende Publikum“ gefordert ist. Es gibt Internetmusik, die so aufgebaut ist, daß irgend jemand Ihnen via Grafik Klangdateien zur Verfügung stellt, die Sie auch zum Klingen bringen können. Sie können aber auch noch etwas hinzufügen und das an andere Leute schicken. Ich habe das Gefühl, daß in der Musik der Kunstbegriff sehr viel progressiver ist. Ein Komponist wie Atau Tanaka zum Beispiel ist nicht irgendwie jemand, sondern ein namhafter Künstler. In seine Internetkompositionen können Sie als Zuhörer und Zuschauer - weil er es auch optisch natürlich darbietet - eingreifen und das Ergebnis wird dann zu den Klangdateien, die schon vorhanden sind, hinzugefügt wird.

Von daher geht die Frage eher in die Richtung, wie wir mit der traditionellen Musikaufnahmen umgehen sollen, also einer Brahms- oder einer Beethoven-Symphonie Schallplatte, bei der die mißglückten Töne herausgeschnitten und durch neue wiederum ersetzt worden sind. Da stellt sich ein bißchen das Problem der Reproduktion und der Frage des Eingriffs in das, was produziert wird. Es gibt eine ältere Plattenaufnahme von der Callas, wo sie das hohe C in ihren beiden Opernwerken nicht getroffen hat. Sie hat verboten, daß man dieses Mißglücken herausschneidet, weil sie gedacht hat, der musikalische Bogen insgesamt würde durch den Schnitt zerstört. Über den Schnitt wird schon ein bißchen geforscht, z.B. was den Unterschied zwischen der Schallplatte und dem Konzert ausmacht. Wobei es natürlich so ist, daß Sie im Konzert tolerant gegen eine Menge von Fehlern sind, weil das Erlebnis dort ganz anders ist als bei einer Schallplatte. Da muß man dann auch von verschiedenen Vermittlungsarten ausgehen. Ein Pianist wie Evgeny Kissin hat immer höchstens nur 50 % der Töne richtig gespielt, aber er war ein überwältigender Pianist. Das ist Konzert! Ich übertreibe jetzt, aber ...

Das heißt, er verschiebt das Gleichnis der Umsetzung, er betont also das von Ihnen angesprochene Ideenhafte der Partitur wesentlich. Für Nelson Goodman wäre das ja kein Fall mehr von diesem Stück mehr.
I am sceptic about Nelson Goodman’s proceedings about music Also ich bin ein bißchen skeptisch, was Nelson Goodmans Ausführungen zur Musik anbelangen. In seinen Ausführungen steckt schon viel drin, was man schon gewußt hat und was modifiziert worden ist. Für den Bereich der Musik würde ich sagen, daß eine CD oder eine alte Platte etwas anderes ist als das Konzert, das auch andere Produktionsbedingungen hat. Das nimmt sich eigentlich nichts wechselseitig oder nicht sehr viel. .
Sie erwähnten einmal, daß man doch ein breites Gefühlsspektrum evozieren kann durch Musik, aber den Ekel zum Beispiel nicht.
there are emotions, which can be better mediated visually, others better acoustically Der Ekel drückt sich eher mimetisch-visuell bei den Menschen aus. Sie können aber natürlich an einer Stimme erkennen, ob jemand traurig oder freudig ist. Es gibt sozusagen Gefühle, die sich akustisch besser darstellen lassen als visuell und es gibt eben auch Gefühle, die sich halt eher visuell vermitteln lassen. Zum Beispiel Trauer und Freude, Grundgefühle des Menschen, die lassen sich akustisch schon sehr gut darstellen und zwar so, daß sie als Ausdruck leicht verständlich sind.
Also der Engländer hat es ja ein bißchen leichter, weil er ja innerhalb dieser Gefühle zwischen „feeling“ und „mood“ noch besser unterscheiden kann. Ist das demzufolge nicht noch ein recht abstraktes Gefühl, eine recht abstrakte Trauer, nicht eine Trauer weswegen, sondern einfach nur eine traurige Empfindlichkeit?
Ich würde sagen, bei der Trauer ist es ohnehin so, daß Sie auch im Alltagsleben ein abstraktes Gefühl sein kann, weil es sehr wichtig ist, daß dieses Gefühl sozial vermittelbar ist. Deswegen ist es nicht gut, wenn man alleine trauert. Es ist immer besser, wenn man an einer Klagemauer steht und sozusagen eine Trauergemeinde hat. Dieses Ritual von Trauer, die Klageweiber und all das, hat eine bestimmte Trostfunktion des Nichtalleinseins. Da geht es auch um Ansteckung. Die Klageweiber werden ja nur hinzugezogen, kennen den vielleicht überhaupt nicht, aber am Ende sind sie doch ganz furchtbar traurig. Die Musik hat partiell Funktionen von solchen Ritualen übernommen. Gustav Malers Totenfeier – eine Überschrift, die er danach getilgt hat, aber immer noch ganz furchtbar traurig klingt – ist natürlich das Ritual einer gemeinschaftlichen Trauer, die jeder erleben kann, die er im Moment nicht haben muß. Trauer ist eben unglaublich ansteckend. In den Konzertsaal verlagert kommt dann doch irgendwie etwas an Trost wiederum auf.
Ist dann die Bilderfahrung nicht eher eine individualisiertere Gefühlserfahrung?
the eye creates distance, the ear creates emotional integration

Eine objektiviertere vielleicht. Man kann sich leichter distanzieren und sagen, das ist traurig, aber nicht ich bin jetzt auch davon ergriffen, obwohl man natürlich auch ergriffen sein kann. Das Auge ist etwas, was Entfernungen erschafft, das Ohr hingegen schafft – grundsätzlich als Organ – einen emotionalen Einbezug. Da würde ich einen Unterschied sehen. Es kann aber auch einen Einbezug in das Bild geben. Es ist ja nicht so, daß der Betrachter immer nur vis-à-vis wäre, sondern es gibt ja auch so die Metapher vom Betrachter im Bild. Wenn Caspar David Friedrich eine Rückenansicht zeigt, dann sollen wir nicht die Rückenansicht betrachten, sondern uns sozusagen in das Bild selbst hineingucken. Da denke ich, gibt es einen größeren Spielraum in der Malerei.
Das haben Pop-Musiker dann aufgenommen, die stehen ja auch gerne mit dem Rücken zum Publikum auf der Bühne.
Das gibt es auch schon bei Wagner. Ein Akt im Parzival hat nur die Funktion, daß der Zuschauer mit einer stummen Figur auf der Bühne herumhockt, die nichts zu tun hat und den ganzen Akt da vorne aber nicht ins Publikum schauen darf. Eine interessante Stellvertretungsfunktion.
Im 19. Jahrhundert waren die Musentempel die Konzerthäuser, im 20. Jahrhundert waren es wohl die großen Museumsbauten bzw. Museumskathedralen. Was sind die Andachtstätten im 21. Jahrhundert?
internet as absorbing medium beyond time and space Es ist wirklich die Frage, ob es in unserer staatssäkularisierten Kultur noch welche geben wird oder ob sozusagen das Eintauchen in das Internet irgendwie Ersatzerlebnisse schaffen wird, was es ja schon bei manchen Menschen tut. Das Internet ist schon ein rudimentär entwickeltes Medium, bei dem man hineingezogen wird in etwas, was eigentlich kein Raum und keine Zeit besitzt. Oder haben Sie eine andere Idee, was für Andachtsstätten es geben könnte?
Das Problem liegt bei der Andächtigkeit. Es gibt kathedralartige Bauten, diese science center, diese riesengroße Wissenschaftscenter sprießen überall aus dem Boden, wobei die Andächtigkeit,dieser Kirchencharakter fehlt. Das Internet, wie Sie es ansprechen, besitzt hingegen vielleicht eher diesen Aspekt der Andächtigkeit. Ich glaube nicht unbedingt, daß es ein Ersatz ist.
Ein Ersatz ist es nicht, aber es gibt andere Aufmerksamkeitsformen.
interview from 15 March 2004 at TU Berlin
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(KLANGKUNST - Katalog zur Ausstellung SONAMBIENTE Festival für Hören und Sehen
9. August - 8. September 1996
Prestel-Verlag, München-New York
ISBN- 3-7913-1699-0 (mit CD))