Klänge und Farbe durch physikalische Anregung. Bringt man einen Gegenstand durch mechanische Anregung zum Schwingen, dann kann sich das akustisch bemerkbar machen. Zupft man beispielsweise eine gespannte Saite an oder bläst eine Flöte, dann wird die zugeführte kinetische Energie in Schwingungen übersetzt, die sich an die Luft hörbar als Schallwellen übertragen. Bestimmte physikalische Eigenschaften des schwingenden Körpers machen sich hierbei in Form der Zusammensetzung des Klangs bemerkbar. So schwingt eine Saite in Abhängigkeit der Spannung und der Länge in einem bestimmten Grundton, sowie weiteren Obertönen, die in einem bestimmten "harmonischen" sprich mathematischen Verhältnis zum Grundton stehen (siehe Diagramm mit den Obertönen einer Blockflöte).
Objekte können auch auf andere Weise angeregt werden, so daß die zugeführte Energie in Form von Licht übersetzt wird. Regt man beispielsweise Elemente oder Moleküle zum Leuchten an, dann läßt sich beobachten, dass diese Licht in charakteristischen Farben abstrahlen. Die Wellenlängen der einzelnen Farben stehen dabei in Abhängigkeit von physikalischen Parametern und dem molekularen Aufbau in einem ganz charakteristischen Verhältnis. Durch eine extreme Verlangsam von der Licht- auf Schallgeschwindigkeit, wird bei den Cold Harmonies diese inhärente Harmonik hörbar gemacht und zum kompositorischen Ausgangsmaterial für die Orion-Variationen.

Der Schlüssel zum Verständnis der Cold Harmonies ist die projizierte Visualisierung. Im Hintergrund des sich drehenden Karusssels bewegt sich in einer Projektion ein Bildausschnitt durch das optische Bild des Orion-Nebels. Das Fadenkreuz in der Mitte zeigt die jeweilige Stelle an, deren Molekül-Strahlung in Abhängigkeit der lokalen Temperatur in das Klanggeschehen übersetzt wird. Dass es dort extrem kalt zugeht, ist an der Temperaturanzeige unten rechts zu verfolgen, die die Temperatur in Kelvin angezeigt. Bei Kelvin, abgekürzt mit K , beginnt die Temperaturzählung beim absoluten Nullpunkt (Minus 273 Grad Celsius). Der Wert darüber mit dem Kürzel v zeigt die Geschwindigkeit an, wie schnell sich die Gasmassen in Kilometern pro Sekunde von uns weg bewegen. Unter der Temperatur wird angegeben, welche Auswahl an Molekülen gerade in Klänge übersetzt wird. Das können Wasser (H2O), Ammoniak (NH3), Schwefeldioxid (SO2), Sauerstoff (O), Kohlenstoff (C) oder drei verschiedene Isotope von Kohlenmonoxyd sein (12CO, 13CO oder C18O). In drei verschiedenen Modi sind die Moleküle auch im Zusammenklang zu erleben: Als Kohlenmonoxyd-Isotopen-Trio, mit einer Gleichverteilung von sechs Molekülen, die jeweils sechs Lautsprecher bespielen (even.six) oder als Auswahl der jeweils stärksten Emissionen (strongest.six).

Entschleunigung Das 'Licht', das die extrem kalten Moleküle aussenden, ist für das menschliche Auge nicht sichtbar. Die Frequenzen der beobachteten elektromagnetischen Strahlung liegt im langwelligeren Gigahertzbereich. Damit die Strahlung hörbar wird, muss diese auf den Hertzbereich reduziert und noch in Schall umgesetzt werden. Der jeweils verwendete Entschleunigungsfaktor, der gewissermaßen die Wellen von Licht- auf Schallgeschwindigkeit abbremst, wird unter der Molekülanzeige angegeben. Wichtig ist hierbei, dass die Frequenzverhältnisse erhalten bleiben, also sich an der inhärenten Harmonik nichts verändert.

Skala als Spektrum Die übersetzen Werte werden als 36 Frequenzen in Hertz oben rechts angegeben, die in drei Spalten jeweils die drei horizontalen Lautsprecherkreise repräsentieren. Am linken Bildrand erscheinen die Frequenzen als Linien eines Spektrums, das sich von unten rot mit den tiefen Tönen zu oben blau mit den hohen Tönen erstreckt. Im Pulsmodus wird zudem die Frequenz in unterschiedliche Pulslängen übersetzt. Diese Farbskala wird auch für die 36 Frequenzwerte übernommen. Die Intensität der Strahlung drückt sich einerseits in der Länge der Linien bzw. der Helligkeit des Zahlenwertes aus. Wird ein Frequenzwert nicht gespielt, so erscheint der Wert und die korrespondierende Linie in grau.

Mikrotonale Sphärenmusik Bereits ein Blick auf die spektrale Verteilung der Einzeltöne macht deutlich, dass den Cold Harmonies eine andere Harmonik innewohnt, als wir sie von der westlichen 12-Tonmusik gewohnt sind. Gemein haben diese mikrotonalen Skalen mit der uns vertrauten Tonleiter, dass sie beide konzeptionell an die himmlischen Sphären rückgebunden sind. Wie der Kölner Musikwissenschaftler Rainer Nonnenmann in seiner virtuellen Einführung (2. Clip im Videomenü) darlegt, geht die westliche Harmonik auf die Sphärenharmonik der Pythagoreer zurück, die musikalische Intervalle als Verhältnisse ganzzahliger Zahlen beschreibt. Die Cold Harmonies verfolgen ebenfalls eine kosmologische Anbindung, in dem sie die Idee einer himmlischen Sphärenmusik mit der Astrophysik des 21. Jahrhunderts verknüpfen.

In den Orion-Variationen begibt sich der Zuhörer auf eine klangliche Reise durch den Orion-Nebel. Wechselnde Strahlungsintensitäten aber auch Temperaturen verändern dabei kontinuierlich das Gefüge der molekularen Skalen, deren Tonfolgen der Komponist Tim Otto Roth durch verschiedene Verfahren noch weiter variiert: So werden die Tonfrequenzen in unterschiedlichen räumlichen Arrangements – symbolisiert durch drei unterschiedliche graphische Symbole unten rechts – auf die Lautsprecher verteilt. Von grau auf farbig wechselnde Linien und Zahlenwerte weisen ferner darauf hin, dass die Töne nicht zwangsläufig alle gleichzeitig gespielt werden, sondern durch gezieltes An- und Ausschalten Klangbewegungen entstehen, wie z.B. rotierende oder oszillierend Muster. Die drei Kreisebenen mit jeweils 12 Lautsprechern können dabei im Metrum separat angesteuert und auch rhythmisch variiert werden.
Die Orion-Variationen entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem Astrophysiker PD. Dr. Volker Ossenkopf-Okada. Der Aufbau der 1. Orion-Variation ist unter der filmischen Dokumentation auf der Vimeo-Seite näher erläutert.


Vom 27. März bis 11. April 2021 waren die Cold Harmonies in der Kirche St. Gertrud in der Krefelderstraße 57 im Kölner Agnesviertel zu erleben.
Das Projekt Cold Harmonies wurde im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 956 im Teilprojektes Öffentlichkeitsarbeit durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.